Säureattentate und ihre Hintergründe

30. Oktober 2010

Der Tagesspiegel hat einem der grässlichsten Alltagsverbrechen einen Artikel gewidmet: Säureattentate, die sonst aus mehrheitlich islamisch geprägten Ländern bekannt sind, werden auch in Kambodscha regelmäßig begangen. Da ätzende Flüssigkeiten relativ preiswert und fast überall erhältlich sind, ist es für die Täter oft kein Problem, sich starke Säuren zu beschaffen. Überraschenderweise soll es aber in etwa ebenso viele männliche wie weibliche Opfer geben, obwohl meist diejenigen Fälle bekannt werden, in denen sich (vermeintlich) gehörnte Ehefrauen an den Mätressen ihrer Gatten vergehen oder Attentate in Auftrag geben. Nicht selten sind davon auch reiche, schöne und/oder mächtige Persönlichkeiten betroffen. Daneben werden als Hintergründe auch wirtschaftliche Interessen vermutet, wenn sich ein Unternehmer einen unliebsamen Konkurrenten entledigen möchte.

Pro Jahr werden rund 50 Fälle bekannt, die tatsächliche Zahl liegt aber sicherlich weit höher. Die Opfer werden von ihrem sozialen Umfeld bald gemieden, viele bringen sich aus Scham oder Schmerz oder beidem um. Die Organisation Cambodian Acid Survivors Charity (CASC) hat in der Nähe von Phnom Penh vor drei Jahren ein Heim eingerichtet, in dem rund ein Dutzend Säureopfer gemeinsam leben. Viele sind erblindet und können daher ihre gewöhnlichen Berufe nicht mehr ausüben.

Vor einigen Jahren ließen sich die Opfer von westlichen Helfern noch dazu überreden, westlichen Touristen in den Märkten der Hauptstadt Postkarten zu verkaufen. Wenn man allerdings nicht darauf vorbereitet ist, dass man urplötzlich von einem schwerstentstellten Menschen angesprochen wird, bleibt die Frage offen, ob den Opfern damit nicht noch mehr Schaden in Form seelischer Verletzungen zugefügt wird. Auch der Autor dieses Blogeintrags musste diese sehr emotionale Erfahrung irgendwo zwischen grenzenlosem Mitleid, Angewidertheit und eigener Scham machen. Gerade die erste Begegnung dieser Art dürfte wohl niemand so schnell vergessen.

Die in dem Artikel angeführten psychologischen Gründe, die jemanden dazu bringen, einem anderen Menschen das Gesicht zu entstellen oder gar zu töten, greifen aber leider zu kurz oder sind einfach lächerlich. Die Gewalt habe sich tief in das Bewusstsein der Menschen eingegraben und entlade sich noch heute selbst bei kleinsten Streits in Sekundenbruchteilen, schreibt der Autor, als ob jeder Khmer für Notfälle ständig eine Flasche mit Säure bei sich trüge. Außerdem haben auch viele Khmer ein gut ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein und wissen ganz genau, wie extrem ein Säureanschlag ist.

Es sind auch weniger die nicht verarbeiteten Traumata der Khmer Rouge-Zeit oder eine Pervertierung der Norm, man dürfe nicht sein Gesicht verlieren, sondern neben der leichten Beschaffbarkeit der Säuren vor allem ein weit verbreitetes Wesensmerkmal der Khmer, einen Konflikt ab einem bestimmten Punkt mit aller Konsequenz auszutragen. Einen Konflikt, den man selbst als existenziell empfindet (ungeachtet dessen, ob das objektiv betrachtet überhaupt der Fall ist), wo es nur noch um „er/sie oder ich“ geht und in dem man den Opponenten vernichten oder extrem schaden – Entstellung bis zum Lebensende – möchte. In diesem Zusammenhang spielen Gerüchte, Verleumdung und üble Nachrede eine große Rolle: Sie zielen oft darauf ab, Zwietracht zu säen wo keine ist oder den sozialen Status einer Person anzugreifen. Die Ehre, der Status – sehr komplexe Begriffe und keinesfalls identisch mit westlichen Vorstellungen – sind den Kambodschanern so wichtig wie die eigene Familie, und wer sich angegriffen fühlt, kann auch mal zu äußersten Mitteln greifen.

Wie so häufig in Kambodscha unter Hun Sen haben aber auch Säureattentate eine politische Dimension: Täter, die aus den Familien hochrangiger Kader der Kambodschanischen Volkspartei stammen, haben die Gewissheit, sich für ihre Taten niemals vor Gericht verantworten zu müssen. Denn das ist die gegenwärtige Realität: Die Reichen und Mächtigen haben sich eine Kultur der Straflosigkeit errichtet, in der sie praktisch tun und lassen, was sie wollen. Sogar Mord und Totschlag sind oft durch das Strafrecht nicht justiziabel: Gegen finanzielle Entschädigungen an die Hinterbliebenen, also privatrechtliche Übereinkünfte, stellen dann auch Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ein. Je nach Status des Opfers ist in Kambodscha ein Mord schon für einen niedrigen vierstelligen Dollarbetrag zu haben.

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Eine Antwort zu Säureattentate und ihre Hintergründe

  1. David von Schewski schreibt:

    Himmel, wieder was gelernt. Gerade ging/geht doch das Schicksal jener Iranerin durch die Medienwelt, die Opfer eines solchen Anschlags wurde und nun dem Täter selbst Säure in beide Augen träufeln darf, mit der Folge, das ser genauso erblindet, wie sie an seinem Anschlag erblindet ist. Die islamischen Richter geben ihr die Möglichkeit Gnade walten zu lassen und zu verzeihen – wovon sie aber keinen Gebrauch machen will. Ich kann mir nicht helfen, aber diese ganze „Säure-Nummer“ erscheint mir abartiger und tiefenpsychologisch dunkler als jegliches Köpfen, Erschießen, Erstechen, Aufhängen, Überfahren usw.

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