Keine Ausschussmitglieder für die größte Oppositionspartei, deren Präsident vor fast zwei Jahren vor einer politisch motivierten Gefängnisstrafe ins Ausland flüchtete, mittlerweile seines Abgeordnetenmandats enthoben und aller Voraussicht nach während den nächsten drei Wahlen – indirekte Senatswahlen Anfang 2012, allgemeine Gemeinderatswahlen einige Monate später und Parlamentswahlen Mitte 2013 – nicht im Land sein wird: Kambodschas Parlamentarismus ist eine einzige Farce, ein winziges Feigenblatt der alles dominierenden Autokratie in Gestalt eines völlig personalisierten Regierungsstils. Dass sich die Sam Rainsy Party (SRP) seit ihrer Gründung viel hat gefallen lassen – Mord und Totschlag inklusive – und dabei bis heute die richtigen Gegenrezepte nicht hat finden können ist der Kontext der jüngsten Meldung, wonach Abgeordnete der Partei ab sofort nicht mehr an Sitzungen der Nationalversammlung teilnehmen werden, solange die Regierung Zwangsenteignungen durchführe und die nationale Wahlkommission personell nicht reformiert werde.
Gerüchte über einen Rückzug der SRP waberten bereits seit einigen Tagen durch die politische Küche. Hintergrund ist Artikel 76 der kambodschanischen Verfassung, welcher besagt, dass das Parlament mindestens aus 120 Abgeordneten bestehen muss. Die SRP stellt derzeit 26 Abgeordnete und argumentiert, ihr Boykott führe zur Beschlussunfähigkeit – wodurch zunächst die Verabschiedung des Haushalts 2012 verhindert würde. Letztendlich geht es der SRP aber viel mehr darum, die Legitimität des staatlichen Handelns zu diskreditieren.
Die regierende Kambodschanische Volkspartei (KVP) teilt die Argumentation ihres Gegners erwartungsgemäß nicht. Sie bezieht die Regelung lediglich auf die konstituierende Sitzung und lehnt die Auslegung der SRP, der Passus beziehe sich auf die gesamte Legislaturperiode, ab. Und in der Tat besagt Artikel 88, dass zur Beschlussfassung im Plenum lediglich ein Quorum von 70% der Abgeordneten erforderlich sei – also 87 von 123 Parlamentariern. Die KVP verfügt derzeit schon allein über 90 Abgeordnete, kann die Hürde also auch ohne die anderen Parteien überwinden. Und sofern die Parlamentarier der SRP zurückträten, wie dies intern im Hinblick auf die Senatswahlen wohl ebenfalls diskutiert wurde, sollten die frei werdenden Sitze den anderen Parteien zufallen – proportional zu deren Stärke.
Aus den wohltemperierten Büros und Wohnstuben Mitteleuropas lassen sich natürlich leicht kluge Ratschläge an Parteien und Politiker erteilen, die fernab des eigenen Kulturraums tagtäglich in einem ziemlich grundsätzlichen und ungleichen Konflikt mit einem undemokratischen Regime stehen. Man sollte die Souveränität der SRP daher nicht in Frage stellen, auch wenn sie den Boykott konsequent und bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten sollte. Dennoch sei der Hinweis gestattet, dass sich die SRP damit auch bei ihr wohlgesonnen Menschen wenig Unterstützung erwarten kann, denn unter den politischen Parteien hat sie in den letzten fünfzehn Jahren praktisch ganz allein die Fahne von Demokratie, Liberalismus und Parlamentarismus hochgehalten. Diesen Ruf setzt sie nun teilweise aufs Spiel – abgesehen davon, dass eine solche Auslegung der Verfassung jedes Land an den Rand der Regierungsunfähigkeit führen würde – einschließlich der etablierten demokratischen Staaten.
Es kann eigentlich nicht das Ziel der SRP sein, eine sowieso schon windelweiche Staatsinstitution weiter zu schwächen, zumal sie, anders als in Exekutive und Judikative, in beiden Parlamentskammern das kambodschanische Volk vertritt (auch wenn das in Praxis nur symbolisch möglich ist). Verständlich ist aber auch, dass sich die größte Oppositionspartei so sehr an den Rand gedrängt fühlt, dass sie zu diesem harten, von Premierminister Hun Sen initiierten Konfrontationskurs keine Alternative mehr sieht. Dann wäre der jetzt verkündete Boykott ein erster Schritt einer länger angelegten Kampagne, die gegebenenfalls im Boykott der Parlamentswahlen 2013 gipfeln könnte.
Ob in diesem Fall der politische Konflikt in breitere gesellschaftliche Spannungen überspringt, ist angesichts des sozialen Unfriedens im ganzen Land nicht mehr unwahrscheinlich. Als erster ist aber nicht die SRP, sondern die Regierung und ihr Chef aufgerufen, alles zu unternehmen, dass die extremsten Schreckensszenarien nicht real werden. Und einer der ersten Schritte besteht ohne Frage darin, aus den tatsächlichen KVP-Institutionen wieder echte Staatsinstitutionen zu machen.