Kambodschas Fremdkörper

Ein persönlicher Bericht vom Khmer Rouge-Tribunal

Von Markus Karbaum

Historisch ist es durchaus, was vor den Toren Phnom Penhs seit einigen Jahren geschieht, und obwohl vom Pathos nicht gänzlich umklammert ist es mir dennoch ein wichtiges Anliegen, mir zumindest einmal einen persönlichen Eindruck vom Khmer Rouge-Tribunal zu verschaffen, in dem derzeit gegen die greisen Ex-Führer der unsäglichen Roten Khmer verhandelt wird. Der Gerichtssaal mit 500 Plätzen soll eigentlich an den allermeisten Tagen sehr gut besucht sein, und da das Prinzip „first come, first served“ gilt, mache ich mich mit meiner Frau schon um 7 Uhr auf dem Weg, um auch wirklich zur Verhandlung ab 9 Uhr dabei sein zu können. Als wir nach einer typischen Höllenfahrt durch halb Phnom Penh um kurz vor acht eintreffen, gehören wir zu den ersten vor Ort. Nach dem wir Mobiltelefone und Digitalkamera am Eingang abgegeben haben, betreten wir schon etwas erleichtert das Gelände – eine Rückfahrt mit leeren Händen wäre zweifellos unsere „Höchststrafe“ gewesen.

Vor dem Sitzungssaal ist ein gut bestuhlter Outdoor-Aufenthaltsraum eingerichtet, wo auch Monitore hängen, über denen abwechselnd in Khmer, Englisch und auch Französisch (warum eigentlich?) über die wichtigsten Regeln vor Gericht und die Grundlagen des Tribunals informiert wird. „Celebrities“ sieht man hier nicht, die sind alle hermetisch vom ordinären Fußvolk abgeschirmt, nur der dicke Lars Olsen, einer der Tribunalssprecher und in dieser Funktion nicht unumstritten, lässt sich blicken. Einige Minuten später treffen dann auch die ersten größeren Menschenströme ein. Dass das Interesse groß sei und dass die Besucherzahlen – bis Anfang 2012 schon mehr als 100.000 – Akzeptanz und Interesse der Khmer am Tribunal bewiesen, gehört zu den Legenden, die dort immer wieder gerne gestrickt werden. Denn für jeden Tag wird eine Gemeinde in Kambodscha ausgewählt, für die dann kostenlose Reisebusse zur Verfügung gestellt werden, um sie zum Tribunal zu karren. Die heutigen Teilnehmer kommen aus Takeo, also keine lange Anreise, sind aber teilweise schon seit 3 Uhr auf den Beinen. Nicht nur optisch unterscheiden sich diese ländlichen Khmer mit ihrer rotbraunen Gesichtsfarbe und den neugierig-scheuen wie unsicheren Blicken, mit denen sie vor allem westlichen Ausländern gegenübertreten, recht deutlich von der urbanen Elite – die allumfassende Diskrepanz ist jedenfalls unübersehbar, die sich in Kambodschas Gesellschaft mittlerweile auftut.

Im Herz des Tribunals: Der Gerichtssaal unterteilt sich in Tribüne, die vom Verhandlungsraum durch eine durchgehende Glasscheibe abgetrennt ist. Foto: ECCC

Die Tribüne ist mit knapp 400 Besuchern dann doch nur zu 80% besetzt (ich hätte also auch noch eine Stunde länger schlafen oder meine Frau etwas vorsichtiger fahren können), und ohne das Busangebot wären wohl keine 100 Leute da. Kostenloses Informationsmaterial, das jedem Besucher ausgehändigt wird, beweist den pädagogischen Wert des – nein, man verschweigt es nicht – bisher 150 Mio. US-Dollar teuren Abenteuers – eine Zahl, die sich die meisten Khmer wohl gar nicht vorstellen können. Dann noch der Vortrag eines kambodschanischen Mitarbeiters des Tribunals, der wie ein Oberlehrer seine Landsleute auf die wichtigsten Regeln und die Sitzordnung hinweist. Der seiner koreanischen (oder japanischen?) Kollegin für die internationalen Gäste ist dagegen eher eine Farce; angesichts der schwindelerregenden Bezüge, die sich durch die Anstellung beim Tribunal auf ihrem Konto bereits türmen dürften, fällt ihr nichts anderes ein als darauf hinzuweisen, unter allen Umständen sitzenzubleiben. Mehr sagt sie nicht, dasselbe aber sicherheitshalber dreimal. Halten wird sich später daran niemand, denn selbst die wenigen kleinen Kinder im Raum wissen, dass man sich erhebt, wenn Richter ein- und auslaufen.

Der Gerichtsraum ähnelt sehr einem Theater, die Verhandlung findet hinter einer gläsernen Schutzwand statt – zunächst verdeckt von einem Vorhang, der dann aber um kurz vor 9 Uhr geöffnet wird. Noch hat das Schauspiel nichtbegonnen, aber die meisten Protagonisten sind schon da, und mein Blick geht sofort in Richtung von Nuon Chea, Ieng Sary und Khieu Samphan. Nur letzterer erhebt sich, als die Richter Einzug halten. Das Verfahren beginnt mit einer Attacke von Michiel Pestman, dem ausgebufften Verteidiger von Nuon Chea, der eine Attacke gegen Premierminister Hun Sen reitet, gegen den sich das Tribunal ob der gefürchteten Einflussnahme – Hun Sen hatte Nuon Chea öffentlich als „Mörder“ bezeichnet und ihn damit angeblich vorverurteilt – zur Wehr setzen solle. Doch der Schatten des Dominators ist lang, und so gehen die Richter um den Vorsitzenden Nil Nonn (der ansonsten eine gute Figur abgibt) inhaltlich gar nicht auf diesen völlig zu Recht gemachten Hinweis des Anwalts ein. Gut, Kollege Regierungschef dürfte mit seinen Anmerkungen der vietnamesischen Presse gegenüber inhaltlich auch Recht gehabt haben, und sofern es irgendwelche Zweifel daran geben sollte, springe ich Hun Sen jetzt mal zur Seite und lege mich fest: Die drei Angeklagten sind Massenmörder, die verurteilt gehören, besser heute noch als morgen und vor allem noch rechtzeitig vor deren baldigem Ableben.

Angeklagter Khieu Samphan, Ex-Staatsoberhaupt (Foto: ECCC)

Aber das durchaus technisch faire Verfahren, welches man trotz aller politischer Einflussnahmen und Skandale an diesem Vormittag zu erkennen glaubt, ist nun einmal kein Geschenk an die drei Angeklagten, die unter den Regeln ihres eigenen Regimes schon längst gelyncht worden wären, sondern an das kambodschanische Volk und die Hoffnung an einem freien und fairen Zusammenlebens, das sich so viele Menschen erhoffen, aber noch in weiter Ferne liegt. Und deshalb ist es überaus wichtig, wie hier verhandelt wird, auch wenn es mitunter nervtötend ist. Für Kambodschaner, so wird an diesem Vormittag allerdings mehr als klar, ist das Tribunal wohl nur ein Fremdkörper, der überhaupt nicht in die Kultur und Lebenswirklichkeit des Landes passt und durch den die drei Massenmörder auch noch einen relativ angenehmen Lebensabend beschert bekommen.

Inhaltlich ist es zunächst doch recht langweilig, was aber nicht an einer schlechten Übersetzung läge, die angesichts der Komplexität ganz gut erscheint (bis auf eine Ausnahme, in der der Vorsitzende die Dolmetscher ausdrücklich zu Genauigkeit ermahnt). Interessant ist sowohl das personelle Ungleichgewicht (auf der Anklageseite sitzen einschließlich der zivilen Nebenkläger rund 40 Personen, auf der Anklagebank sind sie ohne das Sicherheitspersonal gerade einmal zu zehnt) als auch das geschäftig aussehende Nichtstun der meisten Beteiligten. Bis rechts, wo die drei Massenmörder sitzen, die Spielchen und Tricksereien beginnen. Nuon Chea will nur noch morgens an den Sitzungen teilnehmen, weil er nachmittags immer so müde sei; Ieng Sary stolpert schon bald aus dem Saal, danach lässt er sich von einem Sanitäter behandeln, der sicherheitshalber dabei ist. Einmal schaut er noch rein, dann entschwindet er in einen separaten Raum, von wo er der Verhandlung über Bildschirme verfolgen muss.

Angeklagter Ieng Sary, Ex-Außenminister (Foto: ECCC)

Angesichts der begangenen Verbrechen frage ich mich in der Zeit danach, was der tumbe Ankläger eigentlich mit seiner Strategie bezweckt, als er Nuon Chea nach einer Parteizeitschrift und einem -kongress aus den 60er Jahren befragt. Umständlich, ohne erkennbaren Sinn und Zweck beißt er sich an irgendwelchen Details fest bzw. versucht sich diese von Nuon Chea bestätigen zu lassen. Was dieser angesichts eklatanter Erinnerungslücken nicht kann oder nicht will. Auf einem 50 Jahre alten Foto erkennt er niemanden wieder, auch sich selbst nicht, aber dafür Marx und Stalin, die als Bilder in der Saalkulisse mit ins Foto gerutscht waren, immerhin.

An anderer Stelle hatte ich mich bereits recht wohlwollend über Nuon Chea geäußert, der im Gegensatz zu seinen Co-Massenmördern immerhin Rede und Antwort steht. Dieses Bild bedarf allerdings einer Revision: Nuon Chea – hellwach und auf seine Weise hochintelligent –verschleppt, taktiert und manipuliert wo nur irgendwie möglich anstatt zur Wahrheitsfindung beizutragen. Unter den drei Angeklagten ist er zweifellos der Fitteste, das Gift, das in seinen Adern sprudelt, kann man quasi schmecken – trotz der penetranten Respektbekundungen den Richtern gegenüber. Über das Verhältnis der drei Angeklagten untereinander ist so gut wie nichts bekannt, aber man kann durchaus vermuten, dass man sich geeinigt hat, Nuon Chea den letzten Kampf der Roten Khmer hauptsächlich alleine führen zu lassen. Diese Taktik scheint nicht die uneffektivste zu sein, denn es geht ja nicht um Freispruch, sondern nur um Zeitgewinn, um durch den eigenen natürlichen Tod einem letztinstanzlichen Richterspruch aus dem Weg zu gehen. Oder um das Tribunal anhand seiner inneren Widersprüche und den es umgebenden politischen Rahmenbedingungen bersten zu lassen, das scheint insbesondere die Aufgabe von Anwalt Pestman zu sein.

Angeklagter Nuon Chea, Ex-Regierungschef und Stellvertreter von Pol Pot (Foto: ECCC)

Wenn dieses Geplänkel des Anklägers einen Sinn haben sollte liegt der vielleicht darin, auf relativ ungefährlichem Terrain die Verteidigungsstellen des Gegners zu erkunden (auf Zeit sollten die Staatsanwälte aber nicht spielen, es sei denn, sie möchten ein frühzeitiges Ableben des Trios infernale im Gewahrsam des Tribunals als Sieg verbuchen). In diesem Fall war der Vormittag dann doch ein Erfolg für die Anklage, denn die Verteidigung tut ihr den Gefallen: Nuon Chea besteht mehr als fünfmal in Folge darauf, ihm eine Textstelle in einem Dokument, die er als authentisch bestätigen soll, im Original vorzulegen (was, im Übrigen, die einzige Reaktion im Publikum mit einem gut hörbaren Stöhnen hervorruft). Die Kopie und die digitalisierte Form reichen ihm offenbar nicht, jedenfalls scheint die Verteidigung hier eine neue Gelegenheit zur Verzögerung erkannt zu haben, da es sich nicht um ein Dokument handelt, sondern der gesamte Verfahrensablauf zur Debatte steht. Daher insistieren neben Pestman weitere Anwälte, wobei sich der kambodschanische ziemlich blamiert und offenbart, dass er mit seinen internationalen Kollegen einfach nicht mithalten kann.

Die Anklage kann sich also sicher sein, in Zukunft nicht jeden Verhandlungstag mit einem Besuch in der Asservatenkammer vorbereiten zu müssen. Die Zeit drängt, der Vorsitzende weist den Ankläger vor seinem letzten Statement darauf hin, dieses möglichst kurz zu halten, schließlich warte das Mittagessen. Was sich weniger zynisch darstellt als es sich vielleicht anhört, denn angesichts der Aussicht, erst 2020 mit den Verfahren inklusive Berufungen fertig zu sein, ist eine gewisse Routine unablässig.

Die Nachmittagssession erlebe ich nicht mehr, wie nicht wenige Khmer auch. Das Sicherheitspersonal, das sich an seiner Macht ergötzt und streng jeden Besucher zu Recht weißt, hatte bereits am Vormittag jeden Khmer geweckt, der eingeschlafen war. Mir hatte man bei der zweiten Sicherheitskontrolle sogar meine deutschsprachige Lektüre zur Überbrückung der Wartezeit abgenommen – mit der Begründung, man kenne die Zeitschrift nicht. Diese mindergebildeten Möchtegern-Black Sheriffs sind jedenfalls ein weiteres Ärgernis, was in der Außendarstellung nicht gut rüberkommt und zumindest diese Randnotiz wert war.

Welcher Eindruck bleibt? Klar, mit juristischen Mitteln kann man keine moralische Gerechtigkeit herbeiführen, das beginnen die Kambodschaner zu begreifen, und das frustriert sie. Mir wird aber erst jetzt so richtig bewusst, dass das Tribunal das komplizierteste der Menschheitsgeschichte ist – selbst die Nürnberger Prozesse waren dagegen ein Klacks. Man darf und muss so einiges scharf kritisieren, aber die Ehrfurcht sollte man mit Blick auf das Tribunal nicht verlieren: Es durchzuführen ist Wahnsinn, es zu unterlassen ein Verbrechen.

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Eine Antwort zu Kambodschas Fremdkörper

  1. Christopher King schreibt:

    Spannender Einblick!

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