Wenn von Kambodschas „Kultur der Straflosigkeit“ die Rede ist, geht es oft um folgendes Muster: Nach einem gewaltsamen Vorfall, in dem ein Mensch getötet oder schwer verletzt wurde, einigt sich der Täter mit dem Opfer bzw. dessen Angehörigen über eine Entschädigungssumme, damit die Tat nicht angezeigt wird. Oft werden Verkehrsunfälle wie schwerste Verbrechen nach diesem Modell abgewickelt, denn es gibt kein Strafrecht, das unabhängig von einer zivilrechtlichen Übereinkunft zur Anwendung kommt. Dabei geht es oft um vergleichbar kleine Geldbeträge, die je nach Status, Einfluss und Herkunft der Opfer unterschiedlich ausfallen; für Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen wird beispielsweise meist nur ein niedriger vierstelliger Betrag veranschlagt, wobei die Empfänger meist nicht freiwillig zustimmen, sondern von Einschüchterungen und Bedrohungen drangsaliert werden.
In der Praxis bedeutet das für Kambodscha, dass Angehörige der Nomenklatura in Politik, Wirtschaft und Sicherheitskräften (nicht wenige sind durch die endemische Korruption zu Millionären geworden) quasi tun und lassen können, was ihnen gerade so in den Sinn kommt – zumal sich außerdem jede Person im Staatsdienst, die eines Verbrechens verdächtigt wird, nur mit Zustimmung ihres Vorgesetzten vor Gericht verantworten muss. In Kambodscha gibt es also für einige wenige Persönlichkeiten so gut wie keine Anreize, sich an Recht und Gesetz zu halten; die meisten tun das (abgesehen von korruptiven Praktiken) zwar trotzdem nicht gerade selten, aber davon abweichendes Verhalten sollte keinesfalls als Ausnahme heruntergespielt werden. Denn letztendlich fußt ein jedes undemokratisches Regime auf seinen physischen Machtressourcen und deren ungehinderten Einsatz sowie von der Loyalität der Mitläufer in der zweiten und dritten Reihe, die als Kollaborateure der Mächtigen ihren Anteil erwarten.
Auf der anderen Seite steht das Volk, von denen einige zum Freiwild erklärt werden können. Oder einfach nur Pech haben, wie die angeschossenen Demonstrantinnen von Bavet. Aber zwei der drei jungen Frauen leisten nun Widerstand gegen das übliche Prozedere und verlangen laut Radio Free Asia 50.000 und 45.000 US-Dollar für die erlittenen Verletzungen. Doch diese Forderungen haben sie nicht an den Täter Chhouk Bandith, der seines Amtes als Stadtgouverneur vor zwei Wochen enthoben worden war, direkt gerichtet, sondern an das Provinzgericht in Svay Rieng, wo außerdem eine Klage wegen Mordversuch einging. Vom Schützen waren zuletzt 2.500 US-Dollar für ihr Schweigen geboten worden, die erste Offerte, offensichtlich im Namen der stellvertretenden Premierministerin Men Sam An abgegeben, lag noch bei 500 US-Dollar.
Der Mut von Buot Chinda (21) und Nuth Sakhorn (23) setzt den Machtapparat von Regierungschef Hun Sen nun mächtig unter Druck. Ihr Vorteil ist die internationale Dimension des Vorfalls: In der letzten Woche haben laut AFP sechs Konzerne der Bekleidungs- und Schuhindustrie, darunter Puma, Gap sowie H&M, in einem Brief an das Handelsministerium ihre „große Besorgnis“ mitgeteilt und die Regierung zu einer umfassenden Untersuchung gedrängt. Dass der Produktionsstandort plötzlich in Gefahr ist, ist wohl damit nicht mehr von der Hand zu weisen. Welche Werte auf dem Spiel stehen, verdeutlichen folgende Zahlen: Rund 340.000 Beschäftigte in der Textilindustrie, darunter 91% Frauen, in mehr als 300 Fabriken erwirtschaften 85% der gesamten kambodschanischen Exporte, also 3,6 von gut 4,2 Mrd. US-Dollar.
Der Preis eines Menschenlebens könnte durch diesen Präzedenzfall also deutlich steigen – und Dimensionen erreichen, in denen es auch für einen Täter schmerzhaft wird, am besten so sehr, dass Gewaltakte noch seltener werden. Das wäre ein wichtiger Entwicklungsschritt für Kambodscha, und am Ende stünde dann das effektive Strafrecht eines neutralen Staates, so wie man es auch schon aus einigen Nachbarstaaten Kambodschas kennt. Doch der Weg bis dorthin ist noch steinig, denn die Kultur der Straflosigkeit ist ein Machtinstrument der Kambodschanischen Volkspartei (KVP), die seit über 30 Jahren Kambodscha regiert. Wie in der Vergangenheit auch immer wieder gesehen droht der Öffentlichkeit auch nun wieder eine makabre, kafkaeske Inszenierung, deren erster Akt in dieser Woche zu bestaunen war: Der Beschuldigte wurde von der Staatsanwaltschaft zur Befragung eingeladen und durfte, obwohl er die Schüsse gestand, das Gericht als freier Mann verlassen. Wie die Phnom Penh Post weiter berichtet, soll Chhouk Bandith nur noch wegen Körperverletzung und einer Ordnungswidrigkeit belangt werden. Auch weiterhin sei nicht beabsichtigt, einen Haftbefehl auszustellen. Die Pointe in diesem zynischen Possenspiel lieferte ein Sprecher des Justizministeriums, der die Verantwortung für diesen Skandal zurückwies und auf die (tatsächlich nicht vorhandene) Unabhängigkeit der Justiz verwies.
Für die Kambodschaner bleibt zu hoffen, dass die einzig einflussreichen Akteure sich in dieser Auseinandersetzung nicht von den billigen Taschenspielertricks blenden lassen, aber ihrer sozialen wie moralischen Verantwortung werden die internationalen Bekleidungskonzerne wohl nur nachkommen, wenn das Thema weiter im Fokus der Öffentlichkeit bleibt und direkt mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Dass eine Koalition von mehr als 30 NGOs die Verhaftung des Täters fordert, nährt jedenfalls die Hoffnung, dass die Schuldfrage nicht einfach so versanden wird. Denn es geht nichts weniger als um Kambodschas weitere Entwicklung, ein – letztendlich durchaus nachvollziehbarer – Rückzug relevanter Produzenten einhergehend mit der Persistenz von Straflosigkeit könnte das Land wieder deutlich zurückwerfen. Als Alternative versprechen wirtschaftliche Prosperität und ein (etwas) faireres Rechtssystem als bisher einen deutlichen Fortschritt für die überwältigende Mehrheit der Khmer.
Herr Karbaum,
es dürfte klar sein, dass da nicht mehr viel nachkommt, weder eine Haftstrafe für den Schützen Bandith noch ein Rückzug der Internationalen Brands wie Puma & Co aus Kambodscha.
Auch keine unabhängige Justiz, geschweige denn ein demokratischer Rechtsstaat.
Solches von Aussen zu implementieren, ist immer und überall gescheitert, und es wird auch zukünftig scheitern. Demokratie und Rechtsstaat, mit einer „Herrschaft des Gesetzes“ über alle und jeden, das sind rein westliche Vorstellungen von einem Gemeinwesen (Staat).
Leider …
Gruß aus Phnom Penh
Optimisten würden nun behaupten, dass viele Staaten ähnliche Wege gegangen sind und Kambodscha nur noch „etwas“ Zeit brauche. Andererseits: Wenn sich das Regime nicht durch solche Ereignisse wie in Bavet wandeln lässt, blieben sonst nur ganz außergewöhnliche Ereignisse, große Notfälle wie eine Naturkatastrophe.
Die Optimisten würde ich fragen wollen, welche Beispiele für eine geglückte Transformation eines nichtwestlichen Staates hin zu einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat sie denn anführen wollen?
Thailand? Singapur? Malaysia?
Alles Luftnummern…
Die Frage richtet sich nicht an Sie, Herr Karbaum 😉
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