Hun Sen ist mit einem blauen Glasauge davon gekommen: Die von der Europäischen Union gewährten Handelserleichterungen bleiben mehrheitlich bestehen. Dennoch kann die gestern bekannt gegebene Entscheidung als ein kraftvolles Signal gegen die Willkür des Alleinherrschers begrüßt werden.
Nach der einjährigen Prüfphase hat die Europäische Kommission am Mittwoch bekanntgegeben, Kambodscha gewährte Handelserleichterung nach „Everything But Arms“ teilweise zu suspendieren. Als Grund dafür führte sie „schwerwiegende und systematische Verstöße gegen die im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verankerten Menschenrechtsgrundsätze“ an. Die Rücknahme von Zollpräferenzen betrifft Kleidung und Schuhe, Reiseartikel – wie Koffer, Taschen und Rucksäcke – sowie Zucker. Das Volumen soll 1 Milliarde Euro umfassen, was in etwa 19% der 2018 über EBA eingeführten Importe entspricht. Sofern das Europäische Parlament und der zuständige Ministerrat der Entscheidung nicht widersprechen, wird die partielle Aussetzung zum 12. August 2020 wirksam.
Die als Verordnung getroffene Entscheidung erhält eine detaillierte Liste der betroffenen Warengruppen, für die zukünftig Zölle in Höhe von 1,7 bis 12 Prozent fällig werden. Bei den Textilprodukten sind Hosen und T-Shirts für Männer und Jungen, bestimmte Herrenunter- und -nachtwäsche sowie Jogging- und Strumpfhosen für Frauen angeführt. Seit Ende 2018 war spekuliert worden, ob die Entscheidung der EU den Todesstoß für die kambodschanische Textilindustrie bedeuten würde – entsprechend heftig war vorab die Kritik an dem ganzen Verfahren. Mit dieser nun getroffenen Entscheidung dürfte der Fortbestand der Textilindustrie für die kommenden Jahre allerdings gesichert sein (vorausgesetzt, dass der Produktionsstandort die Wettbewerbsfähigkeit erhält). Schreckgespenster wie Massenarbeitslosigkeit, in die Rezession führende volkwirtschaftliche Schnellballeffekte sowie sich gegenseitig verstärkende Armuts- Verschuldungsspiralen sind somit erst einmal vertrieben.
Aufatmen bei Näherinnen und Reisbauern
Also viel Aufregung um (fast) nichts? Nicht ganz. Für den Premierminister – inoffizielles Motto: Kambodscha braucht Hun Sen, aber keine Handelspräferenzen der EU – ist die Entscheidung eine schallende Ohrfeige, über die er und seine willfährigen Claqueure wohl noch ordentlich zetern werden. Bisher war es nur die lächerliche Beschwörung der kambodschanischen Souveränität, die die Entscheidung der Kommission wohl in Frage stellen wolle. Richtig verstehen wird man diese Äußerungen aber erst mit einer adäquaten Übersetzung: Gemeint ist die Souveränität des Alleinherrschers, widerspruchslos, skrupellos und willkürlich zu regieren. Und unter dieser „Souveränität“ der schrankenlosen Machtausübung leidet ein ganzes Volk, das in den letzten Jahren drauf und dran war, die größte Oppositionspartei in die Regierung zu wählen. Bis sie eben aufgelöst wurde. Insofern kann dieses Regime vieles behaupten – aber kaum, die eigene Bevölkerung zu repräsentieren.
EBA teilweise auszusetzen ist sicherlich ein kraftvolles politisches Symbol gegen die Politik eines Autokraten mit wahrscheinlich nur geringen negativen Auswirkungen für die, die diese Entscheidung nicht treffen sollte – nämlich die rund 700.000 Näherinnen der Textilindustrie sowie die mehrere Millionen Menschen umfassende Gruppe der arg gebeutelten Reisbauern. Paradoxer Weise gehört aber auch Hun Sen – zumindest kurzfristig – zu den Gewinnern: Gerade weil die negativen Auswirkungen nur geringfügig ausfallen dürften, gleichzeitig Ressourcen für Gegenmaßnahmen schon bereitgestellt und neue (wenn auch kleinere) Absatzmärkte erschlossen wurden, dürfte sich der Unmut über seine zunehmend an einen Hasardeur erinnernden Entscheidungen in engen Grenzen halten. Das dürfte vor allem innerparteilichen Widersachern erhofften Rückenwind aus den Segeln nehmen. Mehr noch: Im laufenden Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Oppositionsführer Kem Sokha muss Hun Sen nun auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen. Eine langjährige Gefängnisstrafe ist somit nicht gerade unwahrscheinlicher geworden.
Fahrradindustrie bleibt unberücksichtigt
Auch wenn man unterm Strich von einer weisen Entscheidung der Kommission sprechen kann, merkwürdig ist sie in Teilen dennoch. Denn während sie durchaus leichte Verbesserungen im Bereich der Arbeitnehmerrechte erkennt, kommen die informellen Sektoren, in denen Arbeitnehmerrechte kaum eingehalten werden, ungeschoren davon. Bei aller Kritik an den mitunter schwierigen Arbeitsbedingungen in der Schuh- und Bekleidungsindustrie galten diese doch in Sachen Arbeitnehmerrechte als vorbildlich für viele andere Gewerke im Land. Besonders deutlich wird dies an den miserablen Produktionsbedingungen der Fahrradindustrie: Da sich Kambodscha mittlerweile zum größten Lieferanten in die EU aufgeschwungen hat, handelt es sich keinesfalls mehr um eine kleine Nische und hätte daher eine nähere Begutachtung gut gebrauchen können. Nun erscheint es allerdings ziemlich unwahrscheinlich, dass die fast ausschließlich chinesischen Hersteller die Arbeitsbedingungen substanziell verbessern werden.
Aber darum wird es der EU letztendlich nur am Rande gegangen sein – tatsächlich ging es in erster Linie um die politische Rückentwicklung Kambodschas hin zu einem Ein-Parteien-Staat. So konsequent dieser Weg bisher beschritten wurde, wird die Kommission vermutlich wohl selbst nicht allzu viel Hoffnung in ein Umdenken Hun Sens verschwenden. Es ist dennoch ein listiger Schachzug, darauf hinzuweisen, dass „erhebliche Fortschritte insbesondere bei den bürgerlichen und politischen Rechten“ dazu führen könnten, „die Zollpräferenzen im Rahmen der EBA-Regelung wieder ein(zu)führen“. Bedeutet nichts anderes: Hun Sen ist und war verantwortlich und hat es weiter in der Hand, Kambodscha vor Schaden zu bewahren.
Aber das wäre ja ein klarer Eingriff in die Souveränität des Alleinherrschers.