Die Freilassung der im Januar verhafteten Textilarbeiter, Gewerkschafter und Demonstranten am vorvergangenen Freitag kann die gewaltigen Herausforderungen der Branche und damit auch des Landes kaum überdecken. Letztendlich ist es nur hohem internationalen Druck zu verdanken, dass die 23 Angeklagten nach einem skandalösen Prozess – wenn schon nicht freigesprochen – zumindest auf Bewährung in Freiheit sind. Doch das dürfte den meisten Betroffenen nur zunächst genügen, denn die Entscheidung ist keinesfalls eine Garantie und kann – zumal die Gerichte am Gängelband der Regierung hängen – ziemlich schnell in eine Gefängnisstrafe revidiert werden.
Kambodscha verändert sich: Noch vor Jahren wären viele Angeklagte mit einem solchen Deal zufrieden gewesen, erlaubt er es doch der autoritären Regierung, einen Gesichtsverlust zu vermeiden – und mit der sollte sich einfacher Bürger sowieso nicht anlegen. Doch der droht nun auch Ungemach von der anderen Seite: Gut informierte Kreise berichten, dass die internationalen Textilriesen, die in Kambodscha über Subunternehmer produzieren lassen, angesichts der negativen Presse und sonstigem Druck in ihren Heimatländern damit einverstanden seien, den Mindestlohn auf 160 US-Dollar im Monat zu erhöhen. Schließlich kann sich jeder Schuh- und T-Shirt-Händler ausrechnen, dass sich der Endpreis im Einzelhandel dadurch nur um wenige Cents erhöhen würde und dass deswegen ein Nachfragerückgang völlig unwahrscheinlich. Was im Übrigen auch mit der Legende aufräumt, Kambodscha verlöre seine internationale Wettbewerbsfähigkeit. Ganz im Gegenteil: Unzufriedene Näherinnen wegen unzureichender Bezahlung und miesen Arbeitsbedingungen, andauernde Arbeitskämpfe und unkalkulierbare Produktionsausfälle sind viel gewichtigere Faktoren, die internationale Hersteller wie Investoren verunsichern und sie zur Zurückhaltung zwingen. Wer etwas anderes behauptet, lügt aus Eigeninteresse.
Die Positionierung der Hersteller ist daher absolut begrüßenswert: Es ist sowohl ein Bekenntnis für den Wirtschaftsstandort Kambodscha als auch für ein annähernd menschenwürdiges Einkommen für Näherinnen in den Fabriken. Jetzt fehlt der kambodschanischen Regierung das zentrale Argument gegen die Forderungen der Gewerkschaften. Und der Druck, endlich eine einvernehmliche Lösung zu finden, steigt, denn es vergeht kaum eine Woche, in der es nicht zu Streiks in irgendeiner Fabrik in Kambodscha kommt. Gleichwohl genügt diese Konstellation noch lange nicht, auch wenn auf dem ersten Blick es tatsächlich nicht einleuchtet, warum Premierminister Hun Sen sich gegen die satte Lohnerhöhung stellen sollte, wenn die internationalen Topmarken weiter in Kambodscha produzieren lassen wollen und die Näherinnen eventuell sogar ein Loblied auf ihren Regierungschef für seine Unterstützung anstimmen.
Auf dem zweiten Blick weiß Hun Sen allerdings, dass dieses Einlenken nur der Startschuss für eine Flut weiterer Forderungen wäre: Neben Arbeitern anderer Branchen und den grundsätzlich konfliktbereiten Lehrern dürften auch einfache Beamte, Soldaten und Polizisten einen aus ihrer Sicht gerechten Lohn fordern, der weit über dem liegen dürfte, was sie aktuell bekommen. Es täte sich wohl ein Fass ohne Boden auf, der die bisherige Form der gesellschaftlichen Einkommensverteilung – das meiste für die korrupte Elite, ein bisschen was für die wachsende urbane Mittelschicht und das überlebensnotwendigste für den Rest der Bevölkerung – auf den Kopf stellen könnte.
Hun Sen beherrscht den Status quo, und deswegen will er ihn möglichst lange konservieren. Exogene Veränderungen sind für sein personalisiertes Herrschaftssystem, mit dem er die demokratische Verfassung seit 20 Jahren aushebelt, stets eine potentielle Gefahr. Nur Despoten in Staaten wie Nordkorea, die sich vom Rest der Welt weitgehend entkoppelt haben, können damit noch irgendwie klarkommen. Für Hun Sen steht diese Option nicht zur Verfügung, für ihn gibt es kein zurück. Es sei denn, er lässt seine Truppen aufmarschieren und jede Form von Unangepasstheit im Keim ersticken. Jeder weiß, dass er dazu imstande ist.
Es geht also nicht nur um eine Lohnerhöhung für 600.000 Näherinnen, es geht um weit mehr. Das ist kompliziert, zwingt uns aber dazu, ganz genau hinzuschauen.
Hallo!
Eine faire Analyse. Macroökonomisch haben Sie sicher recht, was die Textilindustrie anbelangt.
Aber, obwohl Sie keine momentan Gefahr für den Standort, wegen „ein paar Cent mehr per T-shirt“ sehen, schreiben Sie gleichzeitig, dass es ein Fass ohne Boden werden könnte – die Industrie wird dafür planen müssen. Auch die fanatischsten Gewerkschafter müssten erkennen, dass sich das Land langzeitlich nicht auf einer industriellen Monokultur entwickeln lässt.
Es fehlen – wie üblich – einige weitere Aspekt, mit denen sich der Westen schwer tut:
1. Die westliche Art der Demokratie und des Parlamentarismus ist mitnichten für Länder wie Cambodscha geeignet. Beweise gibt es nun wirklich genug – sehen wir nur das „demokratische“ Chaos im „weiter entwickelten“ (?) Thailand.
2. Die Korruption wurde unter der Vormundschaft der UNTAC eingeführt. Es ist also eine Heuchelei, die Regierung der Korruption zu beschuldigen.
3. Ein Grund warum 150 USD nicht mehr zum Leben ausreichen, ist die Inflation, die wiederum durch Ausländer eingeführt wurde.
Natürlich ist das „water under the bridge“, deshalb müsste es aber nicht so weitergehen. Das Land braucht Cambodschanische Reformen, keine westlichen. Dann bekäme man auch eine wirksamere Regierung zustande.