Das politische Kambodscha blickt auf die Scherben einer dramatischen Woche zurück: Nachdem am Montag Nhay Chamroeun und Kong Sakphea, zwei Abgeordnete der oppositionellen Partei zur Rettung der kambodschanischen Nation (PRKN), vor dem Parlament trotz gegenteiliger Beteuerungen offenbar von regierungsfreundlichen Schlägern krankenhausreif geprügelt und zur medizinischen Behandlung nach Bangkok ausgeflogen wurden, setzte am Freitag die Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung Kem Sokha (PRKN) als ersten stellvertretenden Parlamentspräsidenten ab, offenbar unter Bruch der Verfassung. Damit hat der Kampf von Premierminister Hun Sen gegen die Opposition die nächste Eskalationsstufe erreicht, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Was bedeutet das für die Akteure, das Land und seine Menschen? Kambodscha scheint jedenfalls unmittelbar vor der schwersten innenpolitischen Krise seit 1997 zu stehen.
Hun Sen hatte seit Juli 2014 eine bemerkenswerte Wandlung vom Warlord hin zu einem innenpolitisch verantwortungsbewussten Staatsmann hingelegt. Die neue, von ihm und Oppositionsführer Sam Rainsy postulierte „Kultur des Dialogs“ sollte die politische Konfrontation der letzten Jahrzehnte hinter sich lassen und Grundlage eines friedlichen Modus vivendi bilden. Höhepunkt war jenes Selfie der beiden Protagonisten bei einer kaum für möglich gehaltenen Familienzusammenkunft im Juli dieses Jahres. Aber in dem Moment musste Hun Sen wohl schon längst seinen Frontalangriff gegen die Opposition und die Rückkehr in die Rolle des Warlords, in der er sich wohler zu fühlen scheint, geplant haben: Langjährige Haftstrafen gegen Oppositionsanhänger wegen Nichtigkeiten, die Inhaftierung des PRKN-Senators Hong Sok Hour trotz parlamentarischer Immunität und eine chilischarfe Wortwahl in seinen Reden seitdem. Was bewegt ihn? Geht er strategisch vor, ist seine neue Unberechenbarkeit volle Absicht? Mit dem üblichen Machtstreben lässt sich sein Vorgehen jedenfalls nicht erklären, dafür bedarf es mittlerweile eigentlich anderer Ansätze. Es ist offensichtlich, dass er aufgrund uferloser Korruption und steigenden sozialen Konflikten in den letzten Jahren zu viel Sympathie im eigenen Volk verloren hat. Außerdem geht auch die wirtschaftliche Erfolgsstory mit konstant rund sieben Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr langsam aber sicher dem Ende entgegen. Ein „Weiter so“ scheint eigentlich nicht mehr möglich zu sein. Die alleine von ihm nun forcierte politische Spaltung des Landes wird daher fatal sein. Spätestens jetzt dürfte allen Beobachtern klar sein, dass er seine ganz persönlichen Interessen weit über die der kambodschanischen Nation stellt. Man hätte denken können, dass er aufgrund der Ambitionen seiner Söhne und Töchter ein wenig zurückhaltender werden könnte, vielleicht sogar ein wenig altersmilde. Weit gefehlt. Nur einen Haken hatte die Sache: Mit seinen jüngsten Repressionen erweist er seinen Sprösslingen nun einen Bärendienst, weil die allgemeine Abneigung gegen den Hun-Clan demnächst auch sie ganz unmittelbar treffen kann. Das ist naheliegend, wenn Hun Sen seinen Frontalangriff weiter fortsetzt – und einiges scheint zurzeit möglich, leider: Eine Verhaftung von Sam Rainsy oder dessen drittes Exil, ein Verbot der Opposition, ein Schlussstrich unter die Arbeit kritischer Nichtregierungsorganisationen und oder die Aussetzung der nächsten Wahlen. Kambodscha könnte sehr bald ein anderes Land sein – und Hun Sen sich eines Tages für seine Taten verantworten müssen.
Dass der Partei- und Regierungschef diese Attacken ohne nennenswerten Widerstand innerhalb seiner Kambodschanischen Volkspartei (KVP) durchziehen kann, ist der traditionell exzellenten Disziplin seiner Gefolgschaft geschuldet. Man kann aber auch sagen: Kadavergehorsam. Dass es im Vergleich zu anderen autoritären Regimen, in denen immer mal wieder Gefolgsleute in Ungnade fallen, kaum Dissens im erweiterten Machtapparat gibt und die Aussortierungen der letzten Jahre an einer Hand abzuzählen sind, ist jedenfalls ein eindeutiges Indiz für die Stabilität des Regimes. Und traurig und beschämend zugleich, dass die vielen exzellent ausgebildeten Fachleute im Parlament und in den Ministerien das alles so achselzuckend hinnehmen. Noch hätten sie die Chance, der Verantwortung für ihr Land gerecht zu werden und auf notwendige Reformen (wie etwa in der Landwirtschaft), deren Überfälligkeit viele schon längst erkannt haben, zu drängen. Was macht das eigentlich mit Menschen, die dauerhaft gegen ihre Überzeugungen agieren? Sind sie innerlich zerrissen – oder dann doch mehr ihrem Frontmann verpflichtet als ihren Überzeugungen? Keine Frage: Das Land braucht diese Fachleute und Experten ohne jede Einschränkung, gerade weil die Opposition bei Weitem nichts Vergleichbares aufzubieten hat. Wer kann aber heute mit Sicherheit sagen, dass es einst nicht heißen wird: Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen?
Auch Sam Rainsy und seine PRKN stehen vor schweren Entscheidungen, man kann sogar sagen: vor einer existenziellen Bedrohung. Immerhin war das Amt des ersten stellvertretenden Parlamentspräsidenten ein wichtiger Bestandteil des Deals, der zum Ende des Boykotts der Opposition und zu ihrer Anerkennung der Ergebnisse der Parlamentswahlen 2013 führte. Große Fehler kann man der PRKN nicht vorwerfen, jedenfalls ist Überleben in einem Tigerkäfig inklusive Raubkatze schon ein Erfolg an sich. Dennoch ist ihre bisherige Strategie krachend gescheitert, obwohl sie vielversprechend war: Das Momentum der Popularität von 2013 nach 2018 übertragen, dabei auf das Potential von bis zu einer Millionen jungen Erstwählern zu setzen und in freien und fairen Wahlen einen historischen Sieg zu erringen. Sam Rainsy hat sich in den letzten Monaten kaum provozieren lassen, schließlich wollte er seinem großen Widersacher keinen Anlass zum Ende der friedlichen Koexistenz geben. Nun sind die Partei und ihr charismatischer Präsident Opfer ihrer eigenen Popularität geworden und gute Ratschläge teuer. Zwei grundsätzliche Möglichkeiten zeichnen sich nun ab: Erstens so tun, als sei nichts gewesen. Cool bleiben, sich weiter nicht provozieren lassen. Die Attacken des Diktators als Verzweiflungstaten gegen seinen nicht mehr zu vermeidenden Abstieg hinnehmen. Ihn bis zur Weißglut treiben, das blutrünstige Monster herauslocken bis auch der letzte internationale Beobachter seine Unmöglichkeit erkennt – wenn Sam Rainsys Truppe dafür die Nerven hat. Möglichkeit zwei ist noch ungemütlicher: Rückzug aller Parlamentsabgeordneten, Verlagerung der Oppositionsarbeit in andere öffentliche Räume, Mobilisierung ihrer Anhänger zu regelmäßigen Demonstrationen, Wiederaufnahme der intensiven internationalen Lobbyarbeit, die Sam Rainsy schon früher betrieb, und der Boykott der Gemeinderats- (2017) und Parlamentswahlen ein Jahr später. Das wäre der Super-Gau für das politische System und bliebe wohl nicht ohne erhebliche Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Hun Sen stünde blamiert da und würde sich wohl furchtbar revanchieren. Das wäre eine Eskalation, deren Konsequenzen für die gesamte Stabilität des Landes fatal wären. Egal, wofür sich die PRKN entscheidet: Noch nie war so viel Mut erforderlich, als Teil einer populären Opposition eine eigene freie Meinung zu äußern, als im Moment. Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden: Die Opposition ist nicht geheiligt. Jenseits von Sam Rainsy blühen Inkompetenz und politische Naivität. Vetternwirtschaft grassiert nicht wesentlich weniger als in der KVP, der anti-vietnamesische Chauvinismus hat ein bedrohliches Ausmaß eingenommen. Ohne die Lichtgestalt Sam Rainsy geht nichts, das weiß der 66-jährige selbst am besten und kümmert sich um fast alles alleine. Das kann sehr verhängnisvoll für die Partei werden, sollte sie nicht schleunigst nachhaltige Strukturen entwickeln. Im Parlament gibt sie ein jämmerliches Bild ab, bei jeder nur halbwegs brisanten Entscheidung boykottieren die Abgeordneten der Opposition die Sitzungen. Dabei wurden sie doch gewählt, um die Interessen des Volkes zu vertreten – und die Waffe der Rede kann mitunter sehr wirkungsvoll sein. Aber es gibt in Kambodscha keinen Cato und keinen Cicero – Heroen, die es nun mal braucht, wenn die demokratische Idee nur von wenigen geteilt wird.
In diesem Sinne sind die Unterschiede zum Premierminister eher marginal. Es ist offensichtlich, dass sich Hun Sen diesen Lebens- und Regierungsstil nur leisten kann, weil er von großzügigen Mäzenen und Sponsoren alimentiert wird. Es ist kein Geheimnis, dass die internationale Entwicklungszusammenarbeit das, was an Ineffizienz, Korruption und Willkürherrschaft zu Recht angeprangert werden muss, zum Teil erst ermöglicht hat. Da zumindest einige der vorzüglich bezahlten Mitarbeiter dieser Organisationen durchaus Eigeninteressen in Kambodscha verfolgen, kann man von ihnen als letztes erwarten, zu einer Verbesserung der Lage beizutragen (warum auch, man würde höchstens den eigenen Arbeitsplatz gefährden). Also keine Bedingungen an unsere Hilfen knüpfen? Nein, würden wohl die Apologeten der Entwicklungszusammenarbeit skandieren, wir wollen doch niemandem vorschreiben, wie er zu leben habe, also keine Konditionalität und schon gar kein Neokolonialismus! Richtig so, da kann man sich vorbehaltlos anschließen, jede Nation und alle Menschen sollten unter Wahrung des Friedens das uneingeschränkte Recht haben, so zu leben, wie sie es gerne möchten. Aber nicht mit unserem Geld. Als Steuerzahler haben wir das Recht, einen Pfropfen in dieses Fass ohne Boden zu stecken, denn schließlich ist es öffentliches, also unser aller Geld. Nun, zumindest die Bundesrepublik Deutschland hat sich festgelegt (und zwar auf höchster Ebene im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), in Kambodscha zu bleiben. Diese Entscheidung wurde erst gerade getroffen – hätte man bis Anfang November gewartet, hätte sie wohl zwingend anders ausfallen müssen. Letztendlich wäre ein Exit wohl auch nur ein symbolischer Schritt gewesen, angesichts der horrenden Beträge, die aus anderen Quellen nach Kambodscha fließen.
Auch ein naheliegender Einwand lässt sich angesichts der nackten Fakten schnell entkräften: Wir können doch nicht die zivilgesellschaftlichen Akteure, die eine so wertvolle Arbeit leisten, alleine lassen! Nun gilt es gleich aus mehreren Gründen als erwiesen, dass es in Kambodscha gar keine Zivilgesellschaft gibt, nur eine sogenannte. Das liegt daran, dass die honorigen Organisationen ihren Betrieb nach wie vor ausschließlich aus internationalen Geldern bestreiten und nicht von der kambodschanischen Gesellschaft getragen werden. Auch wenn das, was sie tun, für den Entwicklungsprozess in aller Regel wichtig und richtig ist (nonformale Bildung, Gesundheitsdienstleistungen, Frauen- und Menschenrechte), können sie keine inländischen Mittel akquirieren oder versuchen es erst gar nicht. Kambodschas Mittel- und Oberschicht, die keine oder kaum Abgaben an den Staat zu leisten haben, ist am sozialen Ausgleich einfach nicht interessiert (eher im Gegenteil werden diese Akteure als potentielle Bedrohung wahrgenommen, anders ist die Verabschiedung des sogenannten NGO-Gesetzes nicht erklärbar). Aber sie brauchen es auch gar nicht, denn es wird ja schließlich aus dem Ausland bezahlt. Allerdings ist kaum noch zu verstehen, warum wir noch für so viel Verantwortungslosigkeit geradestehen sollen, 24 Jahre nach Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge. Und wie lange noch? Zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre? Und wenn sich nichts ändert? (Exkurs: Die Afghanen machen es gerade vor: Ein gescheiterter Staat, von dem aus viel Unheil in die Welt getragen wurde, wird mit massiver internationaler Hilfe wiederaufgebaut. Auch deutsche Soldaten und Entwicklungshelfer sind aus einer solidarischen Motivation heraus für diese Idee gestorben. Leider blieb es bei einem Versuch, denn gleichzeitig kamen Gewalt und Terror zurück, der Drogenanbau und -handel blühen, Raffgier und Korruption übertreffen selbst kambodschanische Dimensionen. Mit dem internationalen Truppenabzug neigt sich die Party nun dem Ende entgegen, und die Afghanen packen die Koffer, um sich in Deutschland (und teilweise anderswo) als asylbedürftig vorzustellen, anstatt um die Zukunft ihres Landes zu kämpfen. Ist das die Blaupause für die Kambodschaner, wenn der letzte Baum gefällt und die letzte Parzelle Land an einen ausländischen Investor verhökert wurde?)
Nein, die Khmer müssen lernen, für sich selbst verantwortlich zu sein. Bisher sind sie über Ansätze kaum hinaus gekommen und im partikularistischen Clan-Denken verhaftet geblieben – mit fatalen Folgen für die gesellschaftliche Kohärenz. Natürlich werden sie auch eingeschüchtert, wer aufmuckt bedroht. Das ist das Erfolgsrezept von Hun Sens langer Amtszeit. Nach den letzten Parlamentswahlen konnte man durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Methode der permanenten Verängstigung ihre Grenzen erreicht habe. Hun Sen dürfte sich wohl eher geärgert haben, dass er es versäumt habe, die allgemeine Furcht auf dem erforderlichen Niveau zu halten. Ob er das mit seinem Frontalangriff nun wieder wettmachen kann, ist die ganz große Frage. Er wird Erfolg haben, wenn sich die Khmer vor die Entscheidung gestellt sehen, faktisch über Option eins – Frieden – oder Option zwei – Demokratie und Gerechtigkeit – abstimmen zu müssen. Eine perfide Erpressung: wählt mich oder ich lasse die Panzer auffahren! Auch wenn die Khmer vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Tragödie verständlicherweise Ruhe und Ordnung präferieren, ist es ja nicht so, dass durch die Regierungspolitik das Land immer mehr in eine soziale Schieflage gerät, mit gewaltigem Konfliktpotential – die Entscheidung pro Hun Sen für inneren Frieden ist also überaus trügerisch. Nun fällt im Vergleich zu anderen autokratisch regierten Ländern auf, wie wenig das Regime in Kambodscha anstellen muss, um auf das erwünschte Ergebnis zu kommen: Es gibt tatsächlich kaum Menschen, die derzeit aufgrund ihrer politischen Orientierung oder für ihren Einsatz für sozialen Ausgleich und Menschenrechte im Gefängnis sitzen oder ermordet werden. Ist Kambodscha also ein Land der Mutlosen, der Angsthasen? Jedenfalls wird es keine substantiellen Veränderungen geben, wenn die Menschen sie nicht einfordern. Das hat die Geschichte unabhängig vom Kulturkreis immer wieder gezeigt. Wie eklatant die Defizite diesbezüglich sind, zeigt folgendes aktuelle Beispiel (es gäbe so viele mehr): In der Planung eines baldigen Besuches einer führenden unabhängigen kambodschanischen Gewerkschafterin ist es nicht möglich, innerhalb Deutschlands oder Europas einen qualifizierten Übersetzer zu finden. Alle haben die Hosen voll, und nun soll es, muss es einer aus den USA richten. Ist das stillschweigende Duldung der bestehenden Verhältnisse oder vorauseilender Gehorsam? Oder fängt da schon Kollaboration an? Es ist gar nicht erforderlich, dass alle Menschen stets Zivilcourage beweisen und schon gar nicht ihr Leben riskieren müssen, aber für eine Gesellschaft ist es ein Desaster, wenn es abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen niemand für nötig hält. Sollen sie sich aber bloß nicht beschweren, dass sie in Willkür und Armut leben!
Es geht um Haltung, Moral und staatsbürgerliche Pflichten, wenn man nicht als Untertan leben möchte. Was aber werden diejenigen, die immer nur wegschauen und allein auf ihren unmittelbaren materiellen Vorteil bedacht sind, dereinst ihren Kindern sagen, wenn die fragen: Papa, Mama, was habt ihr damals eigentlich gemacht?
Super Artikel! In allem vollste Zustimmung.
Bliebe vielleicht höchstens noch die Frage der inneren Einstellung / der sozio-kulturellen Ausrichtung der Khmer zu beleuchten, die diese das Dilemma ertragen macht. Was ist es? Angst, Bildungsdefizit, stoische Gelassenheit, das typische Khmer halt: Lächeln, etc.? Ein Psychogramm der Khmer zu erstellen und der sichtbaren Entwicklung des Landes gegenüber zu stellen wäre sicher interessant (z.B. „Der Gefühlsstau“, Prof. Maaz, Halle).
Danke. Und ich stimme Ihnen voll zu, ein Psychogramm wäre ein Meilenstein im Verständnis der Khmer. Seanglim Bit hat es bereits angeschnitten („The Warrior Heritage“), sehr lesenswert. Seit Jahren beschäftige ich mich selbst mit dem Thema Mentalität und werde demnächst auch zum Thema Wertewandel publizieren (Hinweis dann hier).